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Von gemeinsamen und anderen Traditionen

Friedrich Acheitner über Gemeinsamkeiten und Divergenzen inerhalb osteuropäischer Archtiektur

redaktionsbüro: Henrieta Moravèíková
Friedrich Achleitner:
- Welche Umstände waren ab 1900 für die „goldenen Ären“ der Architektur wie zum Beispiel die Wiener Architektur der Jahrhundertwende oder die slowakische in der Zwischenkriegszeit verantwortlich?
- Es waren viele Umstände. Die Wiener Jahrhundertwende ist in erster Linie ein Spiegelbild der politischen und ökonomischen Situation. Es hat zwar in der Monarchie immer wieder Depressionen gegeben, aber auch starke wirtschaftliche Kräfte. In Wien bestimmte um 1900 die „Generation der Söhne“ der reichen „Gründerväter“ die kulturelle Szene, die sich eine „Ästhetisierung des Lebens“ auch leisten konnte. Wien war eine Metropole, in der gemäß dem Schlagwort „viribus unitis“ Macht, Geld und Kultur der Habsburger konzentriert waren. Aber es gab auch die heute noch für den Österreicher typische Ambivalenz zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex – etwa gegenüber den damaligen Kulturzentren Paris oder auch München. Daraus entstand als Reflex die „Wiener Secession“, sehr verkürzt gesagt.
- Und außerhalb Wiens?
- Aus dieser dominanten Stellung Wiens haben sich Konflikte mit den Kronländern ergeben, die ihr Nationalbewusstsein entwickelten: Der Sprachenstreit im Wiener Parlament zum Beispiel, der bis ins Jahr 1848 zurückreichte. Der größte Fehler der Habsburger war, die tschechische Sprache nicht als dritte (slawische) Staatssprache zu akzeptieren. Die zwölf Nationalsprachen waren zwar anerkannt, aber das Tschechische hat nie den Rang des Deutschen oder Ungarischen eingenommen. Diese Konflikte haben sich mental bis heute konserviert. Nach dem Ersten Weltkrieg war das kleine „Deutsch-Österreich“ allein für die Folgen des Krieges verantwortlich und wirtschaftlich kaputt, während etwa in Mähren die alte Industrie wieder aufblühte. Dank der klugen Politik Tomáš G. Masaryks (1) – mit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik – kam es dort zu einem eindrucksvollen Aufschwung.
- Der Aufschwung war aus damaliger Sicht nicht so eindeutig. Die tschechische und slowakische Industrie waren von der Monarchie abhängig und so hat die neue Republik viele Märkte verloren.
- Trotzdem hat es viele positive Entwicklungen gegeben, wie man an der Baukunst sehen kann. In allen Bereichen der Architektur sind vorbildliche Bauten entstanden, die auch bereits gut dokumentiert sind (2). Und es ist kein Zufall, dass die ersten Strömungen in den ehemaligen „Kronländern“ nationalromantische Konzepte waren. Man wollte eigenständige Stile entwickeln, wie zum Beispiel Ivan Vurnik in Slowenien oder Dušan Jurkoviè in der Slowakei. Das waren interessante Versuche, aus eigenen kulturellen Ressourcen Neues zu schaffen.

- Diese Entwicklung hat aber schon im 19. Jahrhundert begonnen. Jurkovič zum Beispiel hat seine besten nationalromantischen Werke in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts – also noch in der Monarchie – geschaffen. Nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik hat er diese Linie nicht mehr verfolgt.
- Da war es auch nicht mehr notwendig, könnte man sagen. Natürlich vollzog sich ein langer Prozess der „Abnabelung“, der weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Im Zusammenhang mit dem Jugendstil handelt es sich auch um ein formal-dekoratives Phänomen. Man glaubte, aus der ornamentalen Volkskultur Neues entwickeln zu können. Diese Ressourcen waren schnell erschöpft. Außerdem handelte es sich, so merkwürdig dies klingt, um ein internationales, gesamteuropäisches Phänomen. Man kann die Nationalstile mit den gleichen Wörtern beschreiben. Eine Ausnahme gab es: Der tschechische Kubismus (später Rondokubismus) setzte theoretisch bzw. ideologisch auf einer höheren Ebene an und war künstlerisch intelligenter.
- Den Rondokubismus, der sich aus dem Kubismus entwickelt hat, versuchte man als offiziellen Stil der Republik der 1920er Jahre zu installieren. Viele staatliche Gebäude, Schulen und Mietshäuser wurden so entworfen. Allerdings hat sich auch der Rondokubismus ziemlich früh erschöpft und wurde vom Funktionalismus ersetzt. Zu diesem Zeitpunkt hat die goldene Ära der tschechischen und slowakischen Architektur begonnen. In Österreich waren aber gerade diese Zeiten nicht toll.
- Es lebten noch Adolf Loos und Josef Hoffmann, alle Otto-Wagner-Schüler – und mit Josef Frank eine sehr talentierte jüngere Generation. Aber sie hatte außer dem Wiener Gemeindebau, der sozial revolutionär und ästhetisch konservativ war, nichts zu bauen. Außerdem hatte Wien die „Revolution der Moderne“ hinter sich. Der Wiener Wohnbau war vordergründig auch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm: Man baute absichtlich arbeitsintensiv, es gab keine Baurationalisierung, keine neuen Technologien, man wollte alle alten Bauhandwerke aus der Vorkriegszeit beschäftigen. Der Funktionalismus hatte also keine Chance. Nach der Weltwirtschaftskrise (1929) hat sich das konservative Bauen auch politisch verfestigt. Nach dem Ständestaat und dem „Dritten Reich“ war sogar noch im Wiederaufbau die „Moderne“ ein Widerpart konservativer Strömungen …
- Die sehr präsent waren …
- … und zwar in allen europäischen Ländern. Meine Generation, die in den 1950er Jahren studierte, hat versucht diese Moderne und ihre Helden wiederzuentdecken – Mies van der Rohe, Le Corbusier, Frank Lloyd Wright. Wir haben auch versucht die eigene Tradition wiederzusuchen. Das fand alles außerhalb der Architekturschulen statt. Wenn ein Student mit einem Le Corbusier-Buch angetroffen wurde, hat man ihm gesagt, er solle doch gleich zur kommunistischen Partei gehen.

- In der Slowakei waren zwar Kommunisten an der Macht, aber Le Corbusier war auch bei uns verboten. Im ganzen Ostblock herrschte in diesen frühen 1950er Jahren der Sozialistische Realismus, eine stalinistische kulturelle Doktrin. In der Architektur bedeutete das, historische Stile zu benutzen. Die Moderne war dem Bürger verpönt.
- Der Sozialistische Realismus – „im Geiste sozialistisch, in der Form national“, wenn ich mich richtig erinnere – hat die gesamte linke europäische Kultur als dekadent denunziert
- Verlassen wir jetzt Wien: Wie ist es dazu gekommen, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so spannende Entwicklungen in den Regionen Österreichs zustande kamen?
- Es gab in der Architekturausbildung zwei Zentren: Wien und Graz. In Wien war die Technische Hochschule stockkonservativ, die „Angewandte“ vermittelte eine gepflegte, traditionelle Moderne und in der Akademie am Schillerplatz herrschte Clemens Holzmeister. Eine Regionalisierung entstand zunächst aus der Opposition Graz – Wien. In Wien entwickelte sich etwa durch Roland Rainer, die „Arbeitsgruppe 4“ (Holzbauer, Kurrent, Spalt) und andere eine Weiterführung des „klassischen Funktionalismus“, wogegen zunächst Hans Hollein und Walter Pichler (1963) protestierten. Es folgte das „Klubseminar“ des Günther Feuerstein mit den bekannten Gruppen „Hausrucker“, „Coop Himmelb(l)au“, „Zünd up“, „Missing Link“ etc., die neue Perspektiven eröffneten. In Graz begann die Revolte in den Zeichensälen der Technischen Hochschule, die schließlich zur „Grazer Schule“ führte. Die Entwicklungen in den anderen Bundesländern sind ganz verschieden, kompliziert und noch nicht richtig erforscht. Andere Gründe: In Österreich ist Kulturpolitik Ländersache – mit eigenen Gesetzen, Instrumenten und Förderungen. Eine gewisse Auswirkung hatten vielleicht auch bis 1955 die verschiedenen Besatzungszonen, eben die amerikanische, britische, französische und die russische.
- Haben die Russen den Sozialistischen Realismus nach Österreich importiert?
- Nein. Sogar Bauten wie der kommunistische Globus-Verlag wurden von alten, allerdings parteitreuen Funktionalisten (Rudolf Weber, Margarete Schütte-Lihotzky) geplant. Die „Russen“ waren eher an Musik, am Theater und an der Literatur interessiert. Man ist nicht nach Moskau gefahren um Architektur anzuschauen. Erst in den 1970er Jahren haben einige meiner Freunde Konstantin Melnikow besucht und die konstruktivistischen Bauten besichtigt. Das waren keine offiziellen Reisen. Die jugoslawische Szene, die Szene von Slowenien oder Kroatien etwa, war für uns schon früher interessant. Wir begannen uns auch früh mit der anonymen Architektur zu beschäftigen, reisten in die Slowakei und nach Rumänien (Holzkirchen), nach Griechenland und in die Türkei. Le Corbusier war auch hierin ein Vorbild. Das hatte Rückwirkungen auf die Architekturschulen und letztendlich auf den Umgang mit dem regionalen Bauen.

- Die Verfolgung der volkstümlichen Traditionen war ein interessantes Phänomen. Auch in der Slowakei haben die Architekten Ende der 1950er Jahre die anonyme Architektur studiert und daraus Inspiration geschöpft. Das war ein Teil einer breiteren europäischen Strömung.
- Die Vorarlberger haben zum Beispiel ihre Wurzeln im Bregenzerwald gesucht und aus der Protestbewegung der „jungen Wilden“ (Literaten, Musiker, Grafiker, Architekten, Lehrer) hat sich die neue Holzbaukultur entwickelt. Der gesellschaftliche Zwang, schon mit 30 ein Haus zu bauen, hat zu Kooperativen geführt, die teilweise im Selbstbau billige Häuser und Siedlungen errichteten. Dabei wurden neue Methoden des Holzbaus entwickelt. Es gab auch andere Entwicklungen, etwas das „Modell Steiermark“, gefördert von der Landesregierung im Verein mit der „Grazer Schule“, „Trigon“, „Steirischer Herbst“ oder das „Salzburg-Projekt“ des Bürgerlistenstadtrats Johannes Voggenhuber, der den ersten Gestaltungsbeirat einführte.
- Sind diese Modelle auf andere Regionen übertragbar?
- Nein. Aber man kann den Geist, das Bewusstsein von Architektur weitergeben. Die Architektur muss die Menschen erreichen, sie darf keine elitäre, universitäre Angelegenheit bleiben. In Oberösterreich (Mühlviertel) ist zurzeit eine Bewegung der „Landnahme“ in Gang. Junge Architekten kümmern sich um die Probleme der Bauern und haben Erfolg.

- Wie ist es mit der modernen Tradition? In jeder dieser regionalen Bewegungen, die du erwähnt hast, sind moderne Wurzeln zu spüren.
- Natürlich. Erstens war es wichtig, dass die Architektur des 20. Jahrhunderts ansatzweise aufgearbeitet wurde. Damit konnten die Länder ihre modernen Traditionen entdecken. Einen wichtigen Faktor stellt die Architekturvermittlung dar. Die Menschen müssen zur Architektur hingeführt werden. Sie steht ja überall herum. Nicht nur jedes Land, jede Stadt hat interessante Bauten, die müssen bekannt gemacht werden. Dieses Bewusstsein ist auch für die Architekten wichtig, die nicht immer alles sehen, was in ihrer Umgebung existiert. Darum sind auch in Österreich die Architekturzentren in den Bundesländern so wichtig, die mit immer größerem Erfolg diese Aufgabe übernehmen.
- Gibt es heute noch so etwas wie Tradition? Regional wie international? Gibt es noch eine regionale Architektur oder streben in Wirklichkeit alle Architekten die „internationale Form“ an?
- Gustav Mahler hat so schön gesagt: „Nicht die Asche, sondern das Feuer soll weitergetragen werden.“ Regionale Architektur gibt es immer, sie soll nur nicht regionalistisch werden. Also keine formalen Einkleidungen, „Trachten“, sondern eine Architektur, die sich aus den kulturellen, personellen und ökonomischen Ressourcen eines Landes entwickelt. Maßstab sind natürlich die großen internationalen Strömungen. Das war immer so, von der Gotik über die Renaissance bis zum Historismus und zur Moderne.

- Werden die Beziehungen zu Bratislava oder der Umgebung hier in Wien reflektiert?
- Das sind zwei Fragen. Politisch und ökonomisch bisher viel zu wenig. Das ist ein merkwürdiges Phänomen. Es gibt Raumplaner, die über die Grenzen hinweg miteinander reden und denen die Nähe beider Großstädte bewusst ist. Aber man hat es versäumt, gute Verkehrsverbindungen zu schaffen. Dadurch war Bratislava Jahrzehnte lang für Wien kaum existent. Kulturell, würde ich behaupten, haben wir schon früh etwas mit Neid nach Bratislava, aber auch nach Brünn und Prag geblickt und schon in den 1960er Jahren die Architektur der 1920er und 1930er Jahre bewundert.
- Hat die EU-Erweiterung diese Beziehungen beeinflusst? Meinst du, dass dadurch irgendwelche neuen Entwicklungen entstehen werden?
- Ob bisher, kann ich nicht beurteilen. Aber in Zukunft zweifellos. Allein die Möglichkeiten der Architekten, sich an allen EU-weiten Wettbewerben zu beteiligen, wird neue Maßstäbe bringen und neue Chancen eröffnen. Natürlich wird auch die Konkurrenz härter werden.

(1) Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937), Gründer der Tschechoslowakei.
Masaryk wurde am 7. März 1850 im mährischen Göding als Sohn eines slowakischen Kutschers und einer Deutschen geboren. Er habilitierte sich 1879 mit einer sozialpsychologischen Arbeit und wurde 1882 Professor an der neu gegründeten tschechischen Universität Prag.
1891 wurde er von Jungtschechen, die sich für einen unabhängigen Staat einsetzten, und 1907 als Führer der Realisten-Partei in den österreichischen Reichsrat gewählt. Seine Befürwortung der Eigenstaatlichkeit führte ihn 1914 an die Seite der westlichen Alliierten.
1917 organisierte er aus Überläufern die „tschechische Legion“ in Russland. Im Pittsburgher Vertrag gelang ihm die Einigung zwischen tschechischen und slowakischen Emigranten. 1918 wurde er zum ersten Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt. 1920, 1927 und 1934 wiedergewählt, trat er 1935 aus Altersgründen zurück und starb am 14. September 1937 auf Schloss Lána bei Prag.
www.weltchronik.de

(2) Dulla, Matúš – Moravèíková, Henrieta: Architektúra Slovenska v 20. storoèí (Architektur der Slowakei im 20. Jahrhundert), Bratislava, Slovart 2002, 512 S.


Friedrich Achleitner, geboren 1930, Architekturstudium bei Clemens Holzmeister, 1953 Diplom, bis 1958 freier Architekt, dann freier Schriftsteller (Mitglied der „wiener gruppe"), Architekturkritiker und -publizist, Hochschullehrer, zuletzt Vorstand der Lehrkanzel für Geschichte und Theorie der Architektur an der Universität für angewandte Kunst in Wien, 1998 Emeritierung. Obmann von tranzit.at.
Zahlreiche literarische Arbeiten, u. a. „quadratroman" (1973), „kaaas" (1995), „Die Plotteggs kommen" (1995), „einschlafgeschichten" (2003), „wiener linien" (2004)
und Publikationen zur Architektur, u. a. „ÖSTERREICHISCHE ARCHITEKTUR IM 2O. JAHRHUNDERT", 1980–95 (4 Bände), „Nieder mit Fischer von Erlach" (1986), „Die rückwärtsgewandte Utopie" (1994), „Wiener Architektur" (1996) und „Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite?" (1997).

Henrieta Moravèíková ist Architekturhistorikerin, Chefredakteurin der slowakischen Architekturzeitschrift ARCH und Leiterin der Architekturabteilung der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. Sie lebt und arbeitet in Bratislava.

Gespräch erschienen in REPORT.Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in Zentral- und Osteuropa,Juni 2005

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